Leseprobe: Nimael - Steine ewiger Macht
- Monka
- 11. Mai 2024
- 6 Min. Lesezeit
Leseprobe: Nimael - Steine ewiger Macht von Tobias Frey

VERFOLGUNGSWAHN
Nimael spürte die brennende Hitze der Sommersonne auf seinem
Haar. Er hatte die Mittagspause am Fluss verbracht, eine Kleinig-
keit gegessen und seine Angelrute im Blick behalten, doch leider hatte
kein einziger Fisch angebissen.
Es war der Fünfte des Siebten. Der Himmel war wolkenlos, die
Vögel zwitscherten und das Grün der Bäume und Gräser spiegelte
sich leuchtend im Wasser. Eigentlich ein hervorragender Tag, um ihn
im Freien zu verbringen, aber die Vorlesungen hatten selbstverständ-
lich Vorrang. Nimael gab feuchtes Papier und etwas Eichenlaub in die
kleine Holzkiste, in der er seine Würmer aufbewahrte, packte seine
Angelausrüstung zusammen und kämpfte gegen die Müdigkeit an,
die ihn nach einer ausgedehnten Mittagspause besonders an heißen
Tagen gern überfiel. Die beiden Lehreinheiten am Nachmittag würden
ihm heute jede Menge Konzentration und Durchhaltevermögen ab-
verlangen. Zum Glück stand morgen der alljährliche externe Fort-
bildungstag bevor. Sicher, es gab freudigere Ereignisse als den Exfobita,
wie die Studenten ihn liebevoll nannten. Da der Siebte sonst jedoch
keine Feiertage zu bieten hatte und es sich um den wärmsten Monat
des Jahres handelte, freute sich Nimael schon seit Wochen auf dieses
Ereignis, das ihn aus den grauen Mauern der Universität Moenchtals
hinausführen würde. Zumal diese nicht unbedingt das attraktivste Ge-
bäude darstellte. Sie war alt, heruntergekommen und hatte dringend
ein paar Renovierungsarbeiten nötig. Im Sommer waren die dicken
Wände zwar kühl wie ein Kellergewölbe, doch im Herbst und Winter
pfiff trotz geschlossener Fenster so manch eisiger Wind durch die Vor-
lesungssäle. Angeblich kamen im Obergeschoss sogar schon die ersten
Tropfen durch die Decke.
Nimaels Wissen zufolge handelte es sich bei der Universität um
das älteste Gebäude des Städtchens und hatte ihm sogar seinen Na-
men gegeben. Bevor es vor ein paar Jahrzehnten zur Universität um-
funktioniert wurde, war es das Kloster, in dem die Mönche des Ortes
lebten und arbeiteten. Es lag direkt am Fluss und war an seinem
großen Mühlrad leicht zu erkennen.
Inzwischen zog die Universität mit ihren Studiengängen der Freien
Künste viele Studenten aus dem gesamten Umfeld an. Seitdem war
Moenchtal stetig gewachsen und stellte nun eine der wichtigsten
Städte ihres Territoriums dar.
Darüber hinaus war es auch dem Einfluss der Universität zu ver-
danken, dass die Bevölkerung als äußerst fortschrittlich galt. Nimael
war sich durchaus bewusst, dass ein Studiengang wie sein eigener,
der größtenteils aus weiblichen Teilnehmern bestand, andernorts un-
denkbar gewesen wäre.
Für den Exfobita war ein Ausflug nach Pagura geplant, das am Rande
des Tals gelegen war. Dort war es einem der ehemaligen Studenten
gelungen, einen erfolgreichen Verlag zu gründen, und – ob nun aus
Dank barkeit oder Stolz – er hatte der Universität eine umfangreiche
Besichtigung versprochen.
Allerdings musste Nimael eingestehen, dass es weder die Abwechs-
lung noch der Ausflug waren, weswegen er den Exfobita herbeisehnte,
sondern vielmehr die Gelegenheit, seine Zeit mit einer gewissen Teil-
nehmerin seines Kurses zu verbringen. Thera. Ihr Name ließ sein Herz
auf einmal höherschlagen.
Zunächst war sie ihm unter den zahlreichen Studenten gar nicht
aufgefallen. Sie war unglaublich klug, gebildet und auch hübsch, gar
keine Frage, aber verzaubert hatte sie ihn erst mit ihrer unbeschreib-
lichen Art. Sie war immer gut gelaunt und ihrem Lächeln konnte man
sich kaum entziehen. Es kam von Herzen und traf auch genau dorthin.
Theras Familie stammte aus einem nordischen Territorium, aber ihre
Herzlichkeit stand im krassen Gegensatz zu den – wie man sagte – kalten
Nordmännern. Sie ließ anderen gern den Vortritt und sah in ihnen nur
das Beste. Ob das auch für ihn galt? Auf jeden Fall fand man diese
Eigenschaften immer seltener in Moenchtal und Umgebung. Viele
Leute hätten sie dafür vermutlich als naiv bezeichnet, aber Nimael
beeindruckte dieser Charakterzug besonders. Er wusste, dass die Welt
eine bessere wäre, wenn es mehr Menschen wie Thera gäbe.
Als Nimael seine Angelausrüstung im Gebüsch versteckte, hörte er
ein leises Rascheln hinter sich. Er fuhr herum, doch die Parkanlage
der Universität präsentierte sich so ruhig und friedlich wie eh und je.
„Hallo?“
Keine Antwort. Wahrscheinlich hatte sich nur ein Vogel in einen
Strauch geflüchtet, um der schrecklichen Mittagshitze zu entgehen.
Außerdem verstieß Nimael mit seinem Fischfang ja noch nicht einmal
gegen die Vorschriften der Universität, die so eine Möglichkeit wohl
niemals in Betracht gezogen hatte. Er wandte sich wieder seiner Angel-
ausrüstung zu und schob sie tief ins Unterholz. Ein lautes Knacken
ließ ihn erneut hochfahren. Diesmal konnte es kein Vogel gewesen
sein. Um ein solches Geräusch zu verursachen, musste schon jemand
auf einen größeren Ast getreten sein. Nimael pirschte sich langsam
an den nächstgelegenen Busch heran und zog mit einem Ruck die
Zweige weg. Ein graubrauner Flussotter, der gerade einen Fisch zer-
legte, quiekte erschrocken auf und sprang davon, um so schnell wie
möglich im Fluss zu verschwinden.
Nachdem er den ersten Schrecken abgeschüttelt hatte, lachte Nimael
erleichtert auf und trat den Rückweg zum Universitätsgelände an.
Dieser freche, kleine Otter war auf seinem Beutezug doch tatsächlich
erfolgreicher gewesen als er selbst. Wenn es ihm gelungen wäre, am
Abend einen frischen Fisch gewinnbringend an eines der Wirtshäuser
am Hafen zu verkaufen, hätte er sich zusätzlichen Proviant für den
Exfobita leisten können. Nun musste er wieder einmal improvisieren.
Seine beiden Feldflaschen konnte er am Brunnen kostenfrei auffüllen.
Bei der anhaltenden Hitze war Wasser ohnehin das wichtigste Gut,
dennoch wollte er die Reise nicht mit knurrendem Magen antreten.
Dummerweise hatte sich sein Geldbeutel schon lange nicht mehr so
leer angefühlt. Doch für einen Zuverdienst fehlte ihm im Moment die
Zeit. Das zweite Semester bildete den Abschluss des Grundstudiums
und Nimael wollte unbedingt mit einer der besten Noten aus den
Zwischenprüfungen hervorgehen. Er musste sich dringend etwas ein-
fallen lassen.
Das alte Universitätsgebäude, das vor ihm in Sicht kam, riss Nimael
aus seinen Gedanken. Zu dieser Tageszeit war auf dem Campus nur
wenig Betrieb. Zwei Studentinnen aus höheren Semestern unterhielten
sich auf dem Vorplatz, während sich drei weitere auf den Stufen zum
Eingang niedergelassen hatten. Im Schatten einer mächtigen Eiche saß
ein junger Mann und schmökerte in einem Buch. Lexikon der Märchen-
und Fabelwesen konnte Nimael auf dem Buchrücken entziffern.
Welches Fach wohl eine solche Lektüre voraussetzte? Nimael musterte
den Unbekannten, der ihm besonders wegen seiner Größe und sei-
nes – für einen Studenten ungewöhnlich muskulösen – Körperbaus
auffiel. Zudem war er ein paar Jahre älter als er selbst und hatte mokka-
farbene Haut. Vermutlich stammte er aus einem der südlichen Ter-
ritorien. Kaum zu glauben, dass der Bekanntheitsgrad der Universität
mittlerweile Studenten aus einer solchen Entfernung anzog. Als Nimael
ihn musterte, blickte der Mann kurz auf, schenkte ihm aber keine
weitere Beachtung, sondern widmete sich sofort wieder seiner Lektüre.
Nimael überquerte den Platz und lief die Stufen zum Gebäude
empor. Im Gang vor seinem Vorlesungssaal unterhielten sich Kaeti
und Eskabatt. Sie würdigten Nimael keines Blickes, als er an ihnen
vorbeilief. Er tat es ihnen gleich und betrat den Raum. Das Geschwätz
der beiden Adelstöchter interessierte ihn ohnehin nicht im Geringsten.
Die meisten der knapp dreißig Teilnehmer waren bereits eingetroffen
und in Gespräche vertieft. Unmotiviert ließ Nimael seinen Blick durch
den Saal schweifen, bis er Thera entdeckte, die zwei Tische weiter ihre
Notizen aus der Tasche zog und die langen Ärmel ihres Kleides richtete.
Nimael spielte schon lange mit dem Gedanken, sie in eines der
besseren Wirtshäuser der Stadt auszuführen. Wenn er ihr schon den
Hof machte, so wollte er ihr unbedingt etwas Besonderes bieten, denn
aus seiner Sicht hatte sie nur das Allerbeste verdient. Einerseits fehlte
ihm dafür aber gerade das nötige Kleingeld, andererseits wollte er auch
nicht zu plump vorgehen und sie damit eventuell vor den Kopf stoßen.
Stattdessen hatte er in diesem Semester begonnen, eine sehr schöne,
zarte Beziehung zu ihr aufzubauen, und langsam glaubte er zu er-
kennen, dass auch sie an mehr als nur einer Freundschaft interessiert
sein könnte.
Gerade als Nimael überlegte, ob er sie ansprechen sollte, hob Thera
den Kopf und sah ihn mit ihren grün schimmernden Augen an. Ihr
goldblondes Haar fiel wie ein Wasserfall über ihre Schultern, ihr Lä-
cheln zeigte sich so schön wie der Sonnenaufgang und ihre Stimme war
Nimael so vertraut wie der Klang seiner Lieblingsmelodie.
„Hallo“, begrüßte ihn Thera überrascht. „Bist du schon lange hier?
Ich habe dich gar nicht gesehen.“
Nimael war plötzlich überfordert. Ihr Anblick und die unerwartete
Frage verschlugen ihm die Sprache.
„Nein, ich … ich kam gerade erst vom Gang“, brachte er schließlich
heraus. Die einfallslose, einsilbige und gestotterte Antwort brachte
seine Wangen unweigerlich zum Glühen. Wenn es Thera aufgefallen
war, so ließ sie sich glücklicherweise nichts anmerken.
„Ich freue mich schon auf morgen“, fuhr sie fort. „Das Wetter ist
hervorragend und von dort oben soll man eine fantastische Aussicht
haben, die ich unheimlich gern festhalten würde.“ Thera zeichnete in
ihrer Freizeit leidenschaftlich gern und war außerordentlich talentiert.
Auf den Bildern, die Nimael gesehen hatte, spielte sie mit Licht und
Schatten und fing sowohl Proportionen als auch räumliche Verhält-
nisse naturgetreu ein. „Leider wird uns dazu ganz sicher die Zeit
fehlen“, fügte sie mit enttäuschter Miene hinzu.
Inzwischen hatte Nimael nicht nur den ersten Schrecken, sondern
auch seine Müdigkeit überwunden. Er erkannte eine Gelegenheit und
hätte er einen Moment zuvor nicht bereits darüber nachgedacht, hätte
er sie wohl ungenutzt verstreichen lassen.
„Was hältst du davon, wenn wir dir morgen einen geeigneten Aus-
sichtspunkt suchen?“, bot er an. „Und wenn das Wetter mitspielt, be-
gleite ich dich am Wochenende noch einmal nach Pagura und du
kannst in aller Ruhe das gesamte Panorama auf die Leinwand bannen.
Vielleicht trage ich dir sogar die Staffelei nach oben.“ Er grinste sie
spitzbübisch an und erhielt die schönste Antwort, die er sich vorstellen
konnte. Sie lachte verlegen und strahlte über das ganze Gesicht. Sie
musste auf diesen Moment bereits gewartet haben.
„Sehr gern“, erwiderte Thera und machte Nimael damit überglück-
lich.
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